„Ich bin nicht verantwortlich dafür, dass sie sich in anderen Ländern gegenseitig die Köpfe wegschießen“. Das hat mir eine junge Schülerin gesagt, 18 vielleicht oder 20. „Ich bin nicht verantwortlich. Deshalb fühle ich mich auch nicht verantwortlich für die vielen Flüchtlinge die hierher kommen. Da sollen sich mal schön die kümmern, die für deren Elend verantwortlich sind.“
So ist sie raus aus dieser Sache, fand sie. Nicht verantwortlich und nicht zuständig.
Heute denke ich an eine andere junge Frau, nicht viel älter als diese Stuttgarter Schülerin. Wenn die nun auch so gedacht hätte? Ich meine Elisabeth von Thüringen, am 17. November 1231 ist sie mit 24 Jahren gestorben. Man erzählt heute noch von ihr, weil sie eben nicht gesagt hat: Dafür bin ich nicht verantwortlich. Elisabeth ist als Prinzessin auf der Wartburg bei Eisenach erzogen worden. Dort hat sie das Elend der Menschen in ihrem Land gesehen. Den Hunger. Krankheiten und Armut. Und niemand fühlte sich verantwortlich. Elisabeth aber schon. Sie hatte das Elend nicht verursacht. Aber sie war im christlichen Glauben erzogen worden und nahm das ernst. Deshalb kümmerte sie sich um die Armen, gab Korn aus und unterstützte sie mit Geld aus ihrem Vermögen. Sie pflegte persönlich Kranke und Sterbende.
Warum sie das getan hat, macht vielleicht eine Geschichte klar, die über sie erzählt wird. Einen obdachlosen Mann mit einer schlimmen Hautkrankheit hat sie auf ihre Burg gebracht um ihn zu pflegen. Ihr Hofstaat war empört. Wer weiß, was dieser Fremde ihnen da für Krankheiten und Umstände einschleppen würde? Sie wollten ihn aus dem Bett zerren. Da lag in dem Bett ein Bild des gekreuzigten Christus.
Die Leute, die diese Geschichte später so erzählt haben, haben wohl verstanden, warum Elisabeth sich für den Kranken verantwortlich gefühlt hat. Denn Jesus Christus hatte ja gesagt: „Was ihr einem meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr für mich getan!“ Jesus hat die Armen und die Fremden als seine Brüder und Schwestern bezeichnet.
Und mein Bruder ist er auch. Er hat mich doch gelehrt, zu unserem gemeinsamen Vater „Vater unser“ zu sagen.
Gott selbst hat uns Menschen zu Schwestern und Brüdern gemacht. Wenn ich jemanden brauche, dann vertraue ich darauf, dass meine Brüder und Schwestern helfen werden. Und ich finde: Genauso bin ich verantwortlich für die Brüder und Schwestern, mit denen ich nicht verwandt bin. Nicht weil ich ihr Elend verschuldet hätte. Aber weil Gott uns verbunden hat.
Man kann das auch anders sehen: So wie jene junge Frau, die sagt: Ich bin nicht verantwortlich. Aber ich meine, Christen, die das Vaterunser beten – die können das eigentlich nicht.
Pfarrerin Dr. Lucie Panzer
Dieser Beitrag lief ursprünglich als "Morgengedanke" auf SWR 4 am 17. November 2015.