Die Gesellchaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit (GCJZ) Stuttgart wird 70 Jahre alt und hat die Stuttgarter Prälatin Gabriele Arnold eingeladen. Stephan Braun hat mit ihr aus diesem Anlass über die GCJZ gesprochen, über Antisemitismus und über das, was Christen und Kirchen dem Judenhass entgegensetzen können. Sie sagt: „Die Kirche kann viel tun. Und sie tut auch schon viel."
Sie sind von der Gesellschaft für Christlich-Jüdische-Zusammenarbeit (GCJZ) Stuttgart eingeladen, die dieses Jahr 70 Jahre alt wird, und sprechen bei der Woche der Brüderlichkeit.
Ich nenne sie Woche der Geschwisterlichkeit. Wir leben und begegnen uns als Männer und Frauen, als Juden und Christen in der Verschiedenheit. Mir ist es wichtig, die Frauen mit in den Blick zu holen.
Was bedeutet für Sie die GCJZ Stuttgart und Mittlerer Neckar?
Für mich ist sie vor allem ein Zeichen, dass mutige Menschen gesagt haben, wir müssen die Geschichte anschauen und aus ihr lernen. Bis 1968 war das Thema Judenverfolgung und –vernichtung ja weitestgehend tabu. Da ist es umso beeindruckender, dass sich schon 20 Jahre vorher, also kurz nach dem 2. Weltkrieg und dem Nationalsozialismus, Menschen zusammengefunden haben, die von Ausschwitz nicht schwiegen und alles dafür tun wollten, dass so etwas nicht mehr passiert. Hinzu kommt, dass ich nicht Christin sein kann ohne meine jüdischen Wurzeln. Auch Jesus war Jude und ich achte und wertschätze die Menschen, die diesen Glauben mit ihm teilen. Deshalb ist für mich auch das Gespräch zwischen Christen und Juden immer etwas Besonderes.
Sie sprechen über Angst und Mut und über Brücken bauen. Wer hat Angst und woran macht sich diese fest?
Etwa 100 Jüdinnen und Juden verlassen Jahr für Jahr unser Land, weil sie Angst haben. Oder weil sie sich ausgegrenzt fühlen. Der Judenhass hierzulande ist immer noch lebendig. Wenn jüdische Kinder in Stuttgart nicht sagen oder zeigen können, dass sie ihren Glauben leben, dann haben wir Zustände, von denen ich einmal gehofft hatte, dass wir sie nie wieder erleben werden.
Woher kommt dieser Hass?
Der hat sicher unterschiedliche Wurzeln. Eine davon ist ein unglaubliches Überlegenheitsgefühl, eine andere ist grundlose Angst vor einer sogenannten Überfremdung. In einer Welt in der vieles unübersichtlich geworden ist, meinen manche sich einigeln zu müssen. Ein anderes Problem ist sicher, dass die alten Klischees und Vorurteile noch in vielen Menschen lebendig sind. Der Jahrhunderte alte und von den Nazis zur Staatsideologie erhobene Judenhass sitzt tief. Ich halte das übrigens auch für ein religiöses Problem, dass Leute so viel Angst haben. Denn ich weiß: Angst ist eine Folge verlorenen Gottvertrauens. Antisemitismus kommt aber auch von Menschen, die aus anderen Kulturen zu uns kommen. Unter ihnen sind solche, die den Staat Israel und damit auch die Juden ablehnen. Sie bringen diese Haltung mit und wir haben die Aufgabe, diese Haltung zu verändern. Das geht nur durch Bildung und Integration.
Wo beginnt in Ihren Augen Antisemitismus?
Er beginnt dort, wo jemand Jüdinnen und Juden als minderwertig beschreibt. Es geht weiter, wenn einer in der Existenz der Juden die Ursache aller Probleme sieht und wird dann aufgebauscht mit Verschwörungstheorien und Begriffen wie Weltjudentum, Finanzjudentum und so weiter.
Antisemitismus-Studien gehen von einem latenten Antisemitismus bei 20 Prozent der Bevölkerung aus. Das heißt, jeder Fünfte ist offen oder heimlich judenfeindlich eingestellt ist. Was macht so eine Zahl mit Ihnen?
Sie erschreckt mich unglaublich. Als ich die Zahl das erste Mal gehört habe, dachte ich: das kann nicht sein. Diese Zahl bedeutet aber auch, dass ich damit rechnen muss, dass unter meiner Kanzel im Gottesdienst oder bei Veranstaltungen Menschen sitzen, die antijudaistisches Gedankengut pflegen. Da darf ich nicht schweigen, sondern muss immer wieder darauf hinweisen, dass wird bleibend mit dem jüdischen Volk verbunden sind und dass jede Form von Antisemitismus in der Kirche keinen Platz mehr hat. Denn wir dürfen nicht vergessen: Auch die Kirche hat eine Jahrtausende alte antisemitische Geschichte. Die reicht zum Teil bis ins Neue Testament, wenn beispielsweise im Johannesevangelium von Juden als Kindern des Teufels gesprochen wird.
Antisemiten sitzen inzwischen wieder in deutschen Parlamenten.
Da gibt es die Meinung, dass es gut sei, dass diese Stimmen laut werden und man ihnen offen widersprechen kann. Ich bin mir da nicht so sicher aber vielleicht ist es besser, denn dann kann man sich mit ihnen streiten. Das muss man dann aber auch in aller Schärfe tun. Man muss den Rechtspopulisten und Antisemiten klar machen, dass wir ihnen unser Land nicht überlassen und dass wir hier in Vielfalt leben – politisch, kulturell und religiös.
Besteht nicht die Gefahr, dass sich der „Horizont des Sagbaren“ verschiebt, sich immer mehr Menschen sich an diese Äußerungen gewöhnen und sie irgendwann als „normal“ empfinden?
Ja es gibt diesen Horizont des Sagbaren und er scheint sich zu verschieben. Deshalb müssen wir ja da sein und diese Stimmen offen als das kennzeichnen, was sie sind, nämlich antisemitische Volksverhetzung.
Was können die Kirchen, was kann die Landeskirche tun?
Die Kirche kann viel tun. Und sie tut auch schon viel. Sie kann mit dem Beauftragten für das christlich-jüdische Gespräch Räume schaffen, in denen Christen und Juden sich begegnen. Sie kann aktiv in der Ausbildung ihrer Pfarrerschaft, ihrer anderen Hauptamtlichen und ihrer ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter die Wurzeln des christlichen Antisemitismus aufzeigen und Position beziehen. Und es gibt den Konfirmanden- und den Religionsunterricht. Es darf meines Erachtens keinen Konfirmandenunterricht geben, in dem man nicht über die Rolle der Kirche im Dritten Reich spricht. Der Religionsunterricht muss zu Dialogfähigkeit und Akzeptanz ausbilden. Und schließlich muss in jedem Gottesdienst, in dem das Alte Testament zur Sprache kommt, klar sein: Uns trägt die Wurzel, nicht wir tragen die Wurzel. Das hat schon der Apostel Paulus so gesagt und damit klar gemacht, das sich das Christentum dem Judentum verdankt und deswegen Jüdinnen und Juden so etwas sind wie unsere Mütter und Väter im Glauben.
Was erwarten Sie von der Gesellschaft und der Politik?
Ich erwarte, dass sich die Menschen verstärkt einmischen, die gegen jede Form von Diskriminierung sind. Ich erwarte mir von Politikern dass sie klar Position beziehen gegen jede Form von völkischer Ideologie und Antisemitismus. Ich denke, wir brauchen noch viel mehr Begegnungen nicht nur bei Empfängen oder bei besonderen Veranstaltungen. Ich finde es ein gutes Zeichen, dass wir in Baden-Württemberg einen Antisemitismusbeauftragten haben. Er braucht dann aber auch finanzielle und rechtliche Mittel.
Haben Sie die Hoffnung, dass in zehn Jahren der Antisemitismus ein Stück weit zurückgedrängt sein wird?
Als Christin habe ich natürlich die Hoffnung, dass das Unrecht und die Gewalt und der Hass eingedämmt werden. Aber dazu braucht es aktives Einmischen. Ich werde keine Ruhe geben. Ich will mich nicht von meinen Enkeln fragen lassen: warum hast Du nichts gesagt?
Was wünschen Sie der GCJZ zu ihrem 70. Geburtstag?
Mindestens nochmal 70 Jahre. Aber 70 Jahre, in denen man nicht so viel gegen Antisemitismus kämpfen muss, sondern sich noch mehr begegnet und die Freude am Glauben miteinander teilt.