Die Goldmedaille legt er mit strahlendem Gesicht auf den Wohnzimmertisch in seinem Haus in Schömberg bei Calw: Martin Wurster hat Anfang September beim Bogenschießen die Deutsche Meisterschaft in seiner Klasse gewonnen. Die Auszeichnung ist ein Mosaikstein auf dem Weg der Versöhnung mit der eigenen Lebensgeschichte, denn der 55-Jährige sitzt seit 2001 im Rollstuhl. Ein Verkehrsunfall in Taiwan hatte das Gottvertrauen des leidenschaftlichen evangelischen Christen damals schwer erschüttert.
Wurster stammt aus einer frommen Familie im pietistisch geprägten Ermstal bei Reutlingen. Das Gymnasium musste er nach dem ersten Jahr schon verlassen, weil er in den Sprachen nur schwache Leistungen erbracht hatte. Also ging er auf die Hauptschule, lernte dann Schreiner und absolvierte danach eine Ausbildung bei der Liebenzeller Mission zum Missionar.
In Taiwan sollte er den Menschen die christliche Botschaft nahebringen. Die Ironie der Geschichte: Er, der Sprachschwache, lernte dafür Englisch, Taiwanesisch und Mandarin. Und zwar so gut, dass er in den asiatischen Sprachen auch predigen konnte, wie er im Rückblick schmunzelnd erzählt. Er gründete eine Gemeinde, engagierte sich in der Jugendarbeit und leitete schließlich das regionale Missionsteam.
Dann der Unfall am 11. November 2001. Er war mit dem Motorroller auf dem Rückweg von einer Gemeinde, als ihm ein Auto die Vorfahrt nahm. Wurster konnte ausweichen, stürzte dann aber unglücklich auf den Rücken. Seitdem ist er vom dritten Brustwirbel abwärts gelähmt. Der Rollstuhl ist sein engster Begleiter geworden.
"Warum hat Gott mich nicht sterben lassen?", fragte er damals frustriert seine Frau, mit der er fünf inzwischen erwachsene Kinder hat. Sie rückte ihm den Kopf zurecht, erinnerte ihn an seine Bedeutung für die Familie, gab ihm neuen Lebensmut. "Ich bin sehr dankbar, wie sie damit umgegangen ist. In so einer Situation besteht die große Gefahr, in Selbstmitleid zu versinken", sagt Wurster.
Eine neue Aufgabe fand sich in Deutschland schnell. Der wider Willen heimgerufene Missionar übernahm die Geschäftsführung eine Vereins, der christliche Fachkräfte in Länder vermittelt, die für Missionare verschlossen sind. Schon 2011 konnte er dann offiziell in Rente gehen.
Das Bogenschießen entdeckte Wurster in einer Rehaklinik. Das machte ihm so Spaß, dass er zu Hause beim Bogensportclub Schömberg fragte, ob er mittrainieren dürfe. Die Vereinskameraden zeigten sich aufgeschlossen und bauten ihm einen Weg, damit er die 50 Meter zur Schießscheibe mit dem Rollstuhl zurücklegen kann. Die Herausforderung für den Gelähmten ist es, seinem Körper durch starke Rückenmuskeln die erforderliche Stabilität zu geben, um ihn auch unter dem Druck eines gespannten Bogens ruhig zu halten.
Bei den Deutschen Meisterschaften für Bogenschützen mit Behinderungen setzte er sich nun in Berlin erstmals gegen alle Konkurrenten in seiner Klasse durch und schaffte mit 627 von 720 möglichen Punkten den Sieg. Selbst die Teilnahme an internationalen Turnieren wäre jetzt möglich, doch dafür fehlt Wurster die Zeit. "Da müsste man dreimal pro Woche trainieren, mir reicht es in der Regel nur ein- bis zweimal", sagt er.
Der volle Terminkalender hängt mit seinem vielfältigen Engagement zusammen. Vor fünf Jahren wurde er ins "Kirchenparlament" (Synode) der Evangelischen Landeskirche in Württemberg gewählt, arbeitet dort auch im Diakonie-Ausschuss mit und setzt sich besonders für Inklusion in der Kirche ein. Da gibt es aus seiner Sicht noch viel zu tun. Nicht nur Barrierefreiheit in kirchlichen Gebäuden bleibt ein Thema, sondern auch Barrieren in den Köpfen. "Viele denken, weil einer im Rollstuhl sitzt, ist er auch geistigbehindert", bedauert Wurster.
Mobil hält den Ex-Missionar ein umgebautes Auto, das sich komplett per Hand bedienen lässt und in dem er über eine Schiene den Rollstuhl selbst ein- und ausladen kann. Zweimal pro Woche fährt er zur Krankengymnastik. Beim regionalen Verein "Menschen helfen Menschen" - dem ehemaligen Krankenpflegeverein - hat der Ex-Missionar den Vorsitz übernommen, bei den Bogensportlern ist er Kassenwart. Auch in seiner Ortsgemeinde führt er als Kirchenpfleger die Kasse. An manchen Sonntagen hält er als Laienprediger (Prädikant) Gottesdienste in Kirchen seiner Region. Heute blickt er dankbar darauf zurück, dass er bei dem Unfall vor 17 Jahren nicht ums Leben gekommen ist.
Quelle: Evangelischer Pressedienst (epd)