Der Protestantismus in Württemberg ist anders als anderswo. Hier genießt der Pietismus seit 275 Jahren eine Sonderstellung. Die württembergische Landeskirche definiert sich in der Kirchenverfassung "als eine lutherische Kirche, die in besonderer Weise vom Pietismus geprägt ist". Das vor 275 Jahren erlassene "Pietisten-Rescript" vom 10. Oktober 1743, das vor 25 Jahren fortgeschrieben wurde, führte zu einer Zusammenarbeit von Kirche und Pietismus, wie sie so in keiner anderen zu finden ist.
Das Herzogtum Württemberg war erst 1534 für die Reformation gewonnen worden. Das politisch unbedeutende und verkehrsabgelegene Land wurde dann aber in nur wenig Jahrzehnten zum evangelischen Muster- und Modellstaat mit einem vorzüglichen Bildungswesen. Diesen "schwäbischen Himmel Württemberg" zerstörte der Dreißigjährige Krieg (1618 - 1648) fast völlig. Zählte man bei Kriegsbeginn etwa 450.000 Einwohner, so lebten bei Kriegsende noch schätzungsweise 80.000 Menschen. Das ohnehin arme Land litt zudem unter verheerenden Franzoseneinfällen und einer verschwenderischen Misswirtschaft am Herzogshof.
Vor diesem tristen Hintergrund fielen die Kirchenreform-Thesen von Philipp Jakob Spener auf besonders fruchtbaren Boden. Er hatte 1675 in Frankfurt am Main den Text "Pia desideria" verfasst, der rasch zur Programmschrift des Pietismus wurde. Spener griff Gedanken des württembergischen Hofpredigers Johann Valentin Andreae auf und forderte die stärkere Verbreitung des göttlichen Wortes durch biblische Lesungen in Gottesdiensten, privates Bibelstudium und Bibelgespräche in neu einzurichtenden Gemeindekreisen. Davon erhoffte er sich die Verwirklichung des von Luther gewollten "allgemeinen Priestertums" durch einen unaufdringlichen, aber überzeugend gelebten Glauben, Mitarbeit von Laien in der Kirche, ein gemeindenahes Theologiestudium, erwecklich-missionarische Predigten und nachdrückliche Betonung des missionarisch-seelsorgerlichen Grundanliegens der Heiligen Schrift.
Heute ist kaum mehr nachvollziehbar, wie revolutionär diese Forderungen und Thesen im späten 17. und frühen 18. Jahrhundert wirkten. Es gab damals weder Meinungs- noch Versammlungsfreiheit. Der Pietismus wurde denn zunächst auch als revolutionäre Untergrundbewegung gesehen, pietistische Schriften und Versammlungen wurden häufig verboten. Bereits 1694 erging in Württemberg - der Hochburg der lutherischen Orthodoxie - ein Gesetz gegen die "Pietisterey". Das Theologiestudium wurde sorgsam überwacht und Pfarrer bei den regelmäßigen Visitationen nach pietistischen Umtrieben in ihrer Gemeinde befragt.
Insgesamt reagierten Staat und Kirche aber eher hilflos-abwartend auf die neue Bewegung und wussten nicht so recht, wie sie mit Menschen umgehen sollte, die eigentlich nur fromm sein wollten und die oft durch ihren gelebten Glauben auffielen. Immerhin führte die Kirchenleitung 1681 neu eine "Kinderlehre" nach der Sonntagspredigt ein und 1723 - ebenfalls neu - die Konfirmation nach vorausgegangener biblischer Unterweisung. Sie nahm damit Anliegen des Pietismus auf, dem es nun gelang, nach und nach in der württembergischen Landeskirche Fuß zu fassen.
Im Jahr 1743 wurde dann das Verhältnis von Pietismus und Landeskirche durch das berühmt gewordene "Pietisten-Rescript" völlig neu geregelt. Es erlaubte pietistische Versammlungen, enthielt aber eine Vielzahl von einschränkenden Vorschriften (nicht mehr als fünfzehn Personen, keine Ortsfremden, nicht bei Nacht, Frauen und Männer getrennt). Es gab so nach heutiger Lesart dem Pietismus Heimatrecht innerhalb der Landeskirche und wies ihm Freiräume zu. Kirchenhistoriker sprechen aber auch davon, dass das Rescript "ein obrigkeitsstaatliches Produkt" gewesen sei, das die Stoßkraft des Pietismus beeinträchtigt und seinen separatistischen Flügel entscheidend geschwächt habe. Der Pietismus sei "vom Staat umarmt" worden.
Das Rescript von 10. Oktober 1743 führte zu einem zwar nicht immer spannungsfreien, insgesamt aber fruchtbaren Miteinander und zu der besonderen geistlichen Prägung Württembergs. Das Pietisten-Rescript von 1743 wurde zu seinem 250-jährigen Bestehen im Jahre 1993 zeitgemäß fortgeschrieben. Kirche und Pietismus in Württemberg sehen sich gegenseitig als Bereicherung und Ergänzung. "Pietismus ohne Kirche verengt, Kirche ohne Pietismus verflacht", hat der frühere Landesbischof Theo Sorg, selbst aus dem Pietismus kommend, dazu geschrieben.
Quelle: Hans-Dieter Frauer (epd)