Simone Straub ist Pfarrerin in der Johannesgemeinde und Seelsorgerin im Olgahospital in Stuttgart. Sie ist zuständig für Patienten auf der Neugeborenenstation, der sogenannten Neonatologie. Zu ihr kommen vor allem Eltern, die ihr Kind verloren haben oder kurz nach der Geburt verlieren werden.
Während andere Neugeborene ihre ersten Stunden auf dieser Welt in den Armen ihrer Eltern verbringen, liegt die kleine Sophie* in einem Inkubator. Der schützende Plastikkasten steht auf der Station für frühgeborene und meist kranke Säuglinge im Olgäle, der Stuttgarter Kinderklinik. Sie teilt sich den abgedunkelten Raum mit drei anderen winzigen Frühchen. Kein Babygeschrei ist zu hören. Nur das regelmäßige Piepen der Monitore, die die Atmung der Säuglinge überwachen. Sophies Vater legt einen Finger an die Plastikscheibe. Mit feuchten Augen betrachtet er seine Tochter. Es wird noch eine Weile dauern, bis sie nach Hause darf.
Abschied nehmen vom verstorbenen Kind
Krankenhausseelsorgerin Simone Straub, hat Sophies Eltern betreut, seit diese erfuhren, dass es bei der Geburt ihrer Tochter Komplikationen geben würde. Auf dem Weg in ihr Büro läuft sie an bunten Bildern von fröhlichen Tieren vorbei, die den hellen Gang der Geburtenstation schmücken. Eine Tür weiter finden sich keine Tierbilder mehr. Hier, neben den Räumen der Krankenhausseelsorger, liegt der Aufbahrungsraum für verstorbene Kinder. „Der Raum wurde mit Absicht aus dem Keller auf unser Stockwerk geholt. Auch wenn manche Kollegen es leicht beklemmend finden“, erklärt die 47-Jährige. An den Tagen, an denen Licht durch die Milchglastür fällt, liegt ein Kind aufgebahrt im Raum. Die Familie ist da, um Abschied zu nehmen. In der Mitte ist Platz für eine Bahre. Rundherum stehen Stühle mit weicher blauer Polsterung. In einem Nebenraum liegen Spielsachen am Boden. Es gibt Bücher und einen kleinen Tisch. „Für die Geschwister des verstorbenen Kindes“, erklärt Straub.
Für Trauer gibt es keinen Ablaufplan
„Ich halte hier selten Liturgien“, erklärt die Seelsorgerin. „Manche Eltern möchten, dass ich ein kurzes Gebet mit ihnen spreche, viele wollen auch einfach allein sein.“ In der vergangenen Woche hat die Pfarrerin draußen gewartet, als ein Elternpaar die Stühle im Andachtsraum zusammenschob und ihr totgeborenes Kind in einem Körbchen zwischen sich legte. „Sie wollten sich Zeit nehmen, um sich zu verabschieden. Das darf hier jeder auf seine Weise tun. Für Trauer gibt es keinen festen Ablauf“, sagt Straub.
Wie geht man auf Menschen zu, die sich auf ein Kind gefreut haben, das sie nicht mit nach Hause nehmen werden? „Ich weiß vorher nie was ich machen oder sagen soll. Es kommt wirklich auf die Situation und die Menschen an. Ich muss mich jedes Mal neu darauf einlassen“, sagt sie. Manche Familien wissen bereits Wochen vor der Geburt, dass ihr Kind wahrscheinlich nicht überleben wird. „In dem Fall gehe ich hin sage: ‚Hallo, mein Name ist Simone Straub. Ich bin die Seelsorgerin. Ich möchte gerne für Sie da sein.‘“ Manche Eltern sind im ersten Moment überfordert. Dann gibt Straub ihnen ihre Telefonnummer und geht dann wieder. „Andere sind wirklich froh, jemanden zum Reden zu haben.“
Der Krankenhausalltag ist hektisch. Ärzte und Pfleger können sich für das seelische Wohl ihrer Patientinnen und Patienten nicht im selben Maße Zeit nehmen, wie die Seelsorgerinnen und Seelsorger. „Ich komme ohne Klemmbrett, ohne Spritzen und Pillen. Ich habe Zeit zum Zuhören. Bei mir können die Eltern und Verwandten weinen und schimpfen. Ihre Trauer und Wut läuft nicht ins Leere“, sagt Straub.
Es ist wichtig, dass jemand da ist
Oft wird sie gerufen, wenn es bei der Geburt eines Kindes unvorhergesehene Komplikationen gibt. Wenn das Kind zum Beispiel zu früh kommt oder schief liegt. Oder wenn es nicht atmet. Dann muss Straub eine Nottaufe durchführen oder Verwandte ablenken, während die Eltern im Kreissaal sind. „Manchmal sind es banale Dinge, die ich tue. Aber auch die sind wichtig“, sagt Straub. Etwa wenn der Ehemann hilflos im Gang sitzt und weint, dann setzt sie sich neben ihn, bringt ihm Wasser oder hält seine Hand. „Wenn ich ein paar Stunden oder Tage später zu der Familie ins Zimmer gehe, können die sich oft gar nicht an mich erinnern. Trotzdem wissen sie noch, dass jemand da war und sie sich nicht allein gefühlt haben.“
Ihr Berufsalltag geht nicht spurlos an Simone Straub vorbei. „Ich kann die Arbeit nicht an der Tür abgeben und einfach heimgehen“, sagt sie. Zum einen, weil ihr Diensthandy fast immer an ist, falls sie überraschend gebraucht wird, und zum anderen, weil sie manche Eltern über Monate hinweg begleitet. Entweder, weil die Mutter schon Wochen vor der Geburt zur Beobachtung im Krankenhaus liegt, oder weil Eltern noch lange danach um das Leben ihres Kindes bangen müssen. „Ohne meinen Glauben könnte ich diesen Beruf nicht machen“, sagt Straub geradeheraus. Im Sonntagsgottesdienst schließt sie die Familien in die Fürbitte ein.
„Warum lässt Gott das zu?“
Wenn Eltern erfahren, dass ihr Kind das Krankenhaus nicht verlassen wird, bricht eine Welt mit allen Wünschen auf eine gemeinsame Zukunft zusammen. „Viele Familien fragen mich nach dem Sinn: Warum passiert uns das? Warum lässt Gott das zu? Wir haben uns doch so sehr ein Kind gewünscht.“ Simone Straub hat darauf keine Antwort, kann dem Leid und der Trauer keinen Sinn abgewinnen. „Dieses Gefühl auszuhalten ist mit das Schwerste an meinem Beruf. Ich muss dann sagen: Ich kann Ihnen darauf keine Antwort geben. Ich finde Ihre Situation genauso schlimm.“ Aber sie will den Familien beistehen. „Durch mein Dasein, Wiederkommen, Mit-Aushalten und nicht Weggehen, bin ich eine Stütze, wenn alles andere zusammenbricht.“
*Name geändert
Marie-Louise Neumann