Ein Mädchen überlebt ein Schiffsunglück im Mittelmeer, alleine fliegt sie zurück nach Deutschland – und jetzt? Flughafenseelsorger Dieter Kleinmann kümmert sich um in Not geratene Reisende, die in Stuttgart landen. Die Sorgen der Flughafenmitarbeiter gehören ebenso zu seinen Aufgaben wie gestrandete Passagiere mit Autoritätsproblemen.
Für viele Menschen beinhaltet ein Tag im Büro das Bearbeiten von Excel-Tabellen, lange Telefonate und mindestens drei Gänge zum Kopierer. Pfarrer Kleinmann kommt jeden Tag in sein Büro am Stuttgarter Flughafen, kocht Kaffee und bereitet sich auf seine Andacht in der kleinen Kapelle im Terminal 3 vor. Auf dem Fußboden des Büros schläft ein erschöpfter Passagier. Dieser liegt allerdings nicht jede Woche dort. „Den hat der Ordnungsdienst hier abgegeben. Er spricht nur Spanisch“, sagt Kleinmann.
Der Spanier hatte ein Problem mit einer Stewardess, weigerte sich, sich hinzusetzen, als das Signal gege¬ben wurde. Die Polizei bugsierte den Mann schließlich aus dem Flugzeug. „Jetzt muss ich gucken, dass wir den nach Hause kriegen. Seinen Anschlussflug hat er ja verpasst“, sagt Kleinmann und lacht. Für den 63-Jährigen sind Ausnahmesituationen an der Tagesordnung. Tief und fest schläft der Spanier auf einer Matratze in der Ecke, während Kleinmann seine Predigt ausdruckt und die Krawatte zurechtrückt
Interessante Begegnungen in der Kapelle
Vier Menschen sind heute gekommen, um den Flughafenseelsorger predigen zu hören. Blaue Buntglasfenster tauchen den kleinen Andachtsraum in ein weiches Licht. In seiner östlichen Ecke zeigt ein Schild die Gebetsrichtung nach Mekka an. Der Raum steht für alle Menschen offen, egal ob Christ, Muslim oder Atheist. Schon viele interessante Begegnungen hat Kleinmann hier gehabt. So lauschte vor kurzem ein Imam seiner Andacht. Im Anschluss ergab sich ein spannendes Gespräch über Allah und die Welt.
Dieter Kleinmann hat jedoch weit mehr zu tun als Predigen und Beten: Zusammen mit einer katholischen Kollegin ist er auch für die seelsorgerliche Begleitung der Flughafenmitarbeiter zuständig. Der Pfarrer kennt fast jeden Angestellten. Auf seinem Rundgang durch den Flughafen grüßen ihn Bäckerinnen, der Sicherheitsdienst und das Reinigungspersonal. Die Tür des Pfarrers steht jedem offen. In den letzten Monaten verloren viele Flughafenmitarbeiter ihre Stelle, fast jeder von ihnen suchte bei Kleinmann Rat.
Manche Mitarbeiter richten sich auch mit ihren ganz persönlichen Problemen an ihn. So wünschte sich eine Angestellte des Bodenpersonals eine ganz persönliche Andacht für ihren verstorbenen Vater. „Dann hat sie mir ihre Geschichte erzählt: Obwohl der Vater sie und ihre Mutter verlassen hat, haben sie später wieder zueinander gefunden. Ich fand das wirklich sehr bewegend“, sagt Kleinmann.
Bewegende Schicksale
Auch für das Wohl der Passagiere und Urlauber ist der Pfarrer zuständig. So hat er schon eine Frau aus dem Flugzeug begleitet, deren Mann im Urlaub verstorben war. „Das müssen sie sich mal vorstellen: Sie liegen mit ihrem Mann entspannt am Hotelpool und auf einmal – Bumm! – Herzinfarkt, tot“, sagt Kleinmann. Als die Frau in Stuttgart eintraf, wartete der Pfarrer auf sie, begleitete sie durch die Passkontrolle und hinaus zu ihrer wartenden Tochter.
Besonders im Gedächtnis blieb ihm die Geschichte eines Mädchens, das mit ihrer Familie von Griechenland nach Italien unterwegs war. Ihre Fähre fing mitten in der Nacht plötzlich Feuer. Ein Sturm war aufgezogen, und die Rettungskräfte kamen nur schwer an das Schiff heran. Über hundert Menschen waren an Bord und stürmten auf die Rettungsboote zu. In dem panischen Gemenge fiel die jüngere Schwester der 17-jährigen aus dem Boot. Das Mädchen musste vorerst allein zurück nach Deutschland fliegen, die Mutter vermisst, ihre Schwester ertrunken. Pfarrer Kleinmann saß stundenlang bei ihr, wartete, bis das Mädchen aus seiner Schockstarre auftaute. „Erst wollte sie überhaupt nichts essen oder trinken, ging immer wieder raus, um mit dem Vater zu telefonieren. Dann fing sie an zu reden.“ Der Pfarrer blieb bei ihr, bis ihre Brüder sie abholten. Kleinmann hat nie erfahren, was aus dem Mädchen und ihrer Familie geworden ist. „Das Verrückte ist, dass ich die meisten Menschen nie wiedersehe“, sagt er nachdenklich. „Ich wüsste schon gern, wie es mit ihnen weitergeht und ob sie zurechtkommen.
Flüchtige Begegnungen
Die Situation des gestrandeten Spaniers hat sich mittlerweile geklärt. Die Polizei hat seine Daten überprüft und ihn als ungefährlich eingestuft. Der Mann darf nach Hause. Pfarrer Kleinmann geht zum Busbahnhof am Flughafen und besorgt ihm ein Ticket nach Spanien. Der Mann ist inzwischen aufgewacht. Kleinmann spricht kein Spanisch, aber er ist sich ziemlich sicher, dass der Fremde Hunger hat. Er gibt ihm zehn Euro, damit er sich ein Sandwich und eine Cola kaufen kann. Auch diesem Menschen wird er vermutlich nicht wieder begegnen. Aber wahrscheinlich wird der sich an den Pfarrer erinnern, der ihm ein Sandwich spendiert hat.
Marie-Louise Neumann
Die Kirchlichen Dienste auf dem Flughafen sind eine ökumenische Einrichtung der Evangelischen Landeskirche in Württemberg und der katholischen Diözese Rottenburg-Stuttgart. Sie wurden 1998 gegründet. Neben dem evangelischen Pfarrer Dieter Kleinmann und der katholischen Seelsorgerin Marjon Sprengel kümmern sich über 30 Ehrenamtliche um Menschen, die sich im Getümmel zwischen Abflug und Ankunft nicht mehr zurechtfinden. Zu ihren Aufgaben gehören unter anderem die seelsorgerliche Begleitung von Fluggästen und von Flughafenmitarbeiterinnen und -mitarbeitern. Wichtig ist derzeit auch die Betreuung von Menschen, die kurz vor ihrer Abschiebung stehen.