Die 68er werden 68 und sind damit im reiferen Alter angekommen. Sind aus den „jungen Wilden“ von damals jetzt die „alten Wilden“ geworden, die sich einmischen und die Alterslandschaft kräftig in Bewegung bringen? Die Tübinger Gerontologin und stellvertretende Vorsitzende der Evangelischen Senioren in Württemberg (LAGES), Ulla Reyle, gehört selbst zu den 68ern. Beim Fachtag der LAGES am kommenden Samstag, 11. März, in Tübingen, spricht sie über das Lebensgefühl und Engagement einer Generation, die die Gesellschaft geprägt hat und immer noch prägt. Ute Dilg hat ihr vorab einige Fragen gestellt.
Wer sind die „68er“? Und gibt es die „68er“ überhaupt?
Generell versteht man unter den 68ern die Alterskohorte, die zwischen 1940 und 1950 geboren wurde. Aber „die“ 68er gibt es wahrscheinlich gar nicht. Die jungen Menschen damals haben die Zeit sehr unterschiedlich erlebt, je nachdem wo und wie sie lebten: in einer Universitätsstadt, auf dem Dorf, in einer eigenen Wohnung oder im Elternhaus, als Schüler, Auszubildende oder Studierende. Die Einzelnen waren ganz unterschiedlich nah dran an den gesellschaftlichen Umbrüchen. Wenn wir von den 68ern sprechen, dann meinen wir in der Regel diejenigen, die sich aktiv an den Protesten beteiligt haben. Allerdings haben auch die, die sich nicht aktiv beteiligt haben, Anteil an den „Tiefenströmungen“ der Zeit gehabt.
Was verstehen Sie unter „Tiefenströmungen?
Tiefenströmungen sind für mich Themen, die in jungen Jahren aktuell waren und nun im Alter wieder an die Oberfläche kommen. Also Prägungen, die wie ein roter Faden durchs Leben laufen. Bei den Alt-68ern ist häufig das selbstbestimmte Engagement eine Tiefenströmung. Oder die Suche nach neuen Lebens- und Wohnformen. Viele haben schon als junge Menschen Erfahrungen mit Wohngemeinschaften gemacht. Die Generation der Kriegskinder hingegen, die zwischen 1930 und 1942 geboren wurden, sind anders geprägt. Viele von ihren tuen sich eher schwer, die eigenen Bedürfnisse im Alter wahrzunehmen und zu artikulieren.
„Das Private ist politisch“ war ein Motto der 68er. Wie hat sich das damals ausgewirkt? Wie wirkt es sich heute aus?
Das war damals so ein Sponti-Spruch. Die Aussage ist eng verbunden mit der Frauenbewegung in den 60er Jahren und der Frage der sexuellen Selbstbestimmung. Dass das Private auch politisch ist, ist für uns heute eher selbstverständlich, als dass es das damals war. Viele 68er waren und sind bis heute aktiv in der Friedenbewegung, im Umweltschutz oder in der Eine-Welt-Arbeit.
Wie stehen die 68erzur Kirche, damals und heute?
Für viele junge Menschen war die Kirche eine hierarchische und eher veraltete Institution mit einer einengenden Sexualmoral. Religion galt als „Opium fürs Volk“, viele von uns haben Marx und natürlich Marcuse gelesen. Andererseits ging es auch innerhalb der Kirche kontrovers zu in dieser Zeit. Neue Gottesdienstformen entstanden. Die Kirche hat sich also auch verändert. Viele 68er stehen auch heute der Kirche als Institution eher kritisch gegenüber. Es gibt aber eine große Sehnsucht nach einer authentischen Spiritualität, nach zeitgemäßen Formen der Meditation. Viele sind sehr auf der Suche. Allerdings erreicht man sie mit den klassischen Senioren-Angeboten ganz sicher nicht. Was die 68er auszeichnet ist ihre Bereitschaft, sich ehrenamtlich zu engagieren, etwa in der Hospiz- oder Flüchtlingsarbeit. Man kann Menschen gewinnen, indem man ihnen den Mehrwert kirchlichen Ehrenamts aufzeigt und darüber über ihre spirituellen Bedürfnisse ins Gespräch kommt.
Ein Markenzeichen der 68er ist ja die Jugendrevolte. Kommt jetzt, nachdem sie 68 werden, die Altersrevolte?
Das ist ein charmanter Gedanke. Allerdings glaube ich nicht, dass man von einer Altersrevolte sprechen kann. Tatsache ist aber, dass sich die Altersbilder geändert haben. Die Lebensphase Alter, also die Zeit zwischen dem 60. und 90. Lebensjahr wird aufgrund der steigenden Lebenserwartung immer länger. Sie dauert oft 30 Jahre, also länger als Kindheit und Jugend zusammen. Die 68er bringen eine Erwartungshaltung mit in diese Lebensphase. Sie haben gelernt, ihre Bedürfnisse zu artikulieren und durchzusetzen. Sie suchen nach neuen Wohnformen, leben ihre Sexualität auch im Alter, wünschen sich eine selbstbestimmte Spiritualität und wollen auch ein Ehrenamt selbst gestalten anstatt Befehlsempfänger zu sein. Zudem haben die meisten hervorragende Ressourcen, was Finanzen, Bildung und soziale Netze angeht.
„Die 68er werden 68. Aufbrüche damals – und wie geht es weiter“ ist der Titel eines Fachtag der Evangelischen Senioren in Württemberg (LAGES) am kommenden Samstag, 11. März, im Gemeindehaus Lamm in Tübingen. Von 9:30 bis 16 Uhr beschäftigen sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer in verschiedenen Workshops damit, welche Themen der 68er Jahre Einfluss auf ihr berufliches und nachberufliches Leben haben. Dazu kommen ein Impulsreferat von Ulla Reyle sowie ein Plenumsgespräch zum Abschluss.
Was bedeutet das für die Kirche und für das Gemeindeleben?
Die Kirche tut gut daran, die vielfältigen Ressourcen dieser Generation wahrzunehmen und die Menschen dieser Kohorte nicht vorwiegend unter einem diakonischen Blickwinkel zu sehen. 70-Jährige etwa empfinden es als eine Kränkung zum klassischen Seniorenkreis eingeladen zu werden. Sie sehen sich nicht als krank oder schwach, sondern wollen Gestaltende sein, aber sich auch nicht ewig binden. Die 68er sind oft sehr aktiv im Ruhestand, das heißt, sie wollen sorgsam mit ihren Ressourcen umgehen. Die Kirche sollte ihnen die Möglichkeit geben, aktiv zu werden und sie spirituell begleiten. Das berührt stark das Verhältnis zwischen Haupt- und Ehrenamtlichen in einer Gemeinde. Viele hauptamtliche Mitarbeiter werden sich umstellen und anders auf diese Ehrenamtlichen zugehen müssen. Aber ich habe den Eindruck, dass die Kirche da auf einem guten Weg ist.
Unter den Talaren, der Muff von tausend Jahren. Jetzt haben viele der 68er selbst „Talare“ getragen. Muffelt es darunter auch?
Ich würde gerne den Begriff der Talare ausdehnen. Wir 68er – ich gehöre selbst auch dazu – hinterlassen den nachfolgenden Generationen sicher nicht das Paradies auf Erden. Denn unser Lebensstil ist nicht nachhaltig und verbraucht zu viele Ressourcen. Insofern muffelt es auch unter unseren Talaren gewaltig. Andererseits haben wir und die Generationen nach uns eine neue Kommunikationskultur geprägt. Wir sind sprachfähig geworden über die Generationengrenzen hinweg. Einer der Gründe für den Aufbruch in der 68er Jahren lag ja in der Notwendigkeit, das damals existierende Schweigekartell endlich zu beenden und eine Sprache zu finden für die Schrecken des Holocaust.
Noch einer der Gassenhauer der 68er zum Schluss: „Trau keinem über 30.“ Wie halten es die 68er mit der Generationengerechtigkeit?
Es gab ja immer wieder die Unkenrufe vom Kampf der Generationen. Dazu ist es bisher nicht gekommen. Im Gegenteil. Ich nehme eine große Verbundenheit zwischen den Generationen wahr – innerhalb und außerhalb der Familien. Viele Familienmitglieder wohnen räumlich oft weit voneinander entfernt. Trotz der äußeren Distanz scheint es aber eine große „innere Nähe“ der Generationen zueinander zu geben, was sich sowohl in der finanziellen Unterstützung wie auch in der konkreten Hilfe füreinander zeigt. Und auch außerhalb der Familien gehen Generationen aufeinander zu, etwa als Leihgroßeltern, Vorlesepaten oder Nachbarschaftshilfen. „Trau keinem über 30“ würde heute hoffentlich keiner mehr so unterschreiben.