| Gesellschaft

Von der Jungschar ins Parlament

Landtagsvizepräsidentin Brigitte Lösch hat früh gelernt, Unterschiedlichkeit zu akzeptieren

Brigitte Lösch schlägt die Hände über dem Kopf zusammen, legt die Stirn auf den Tisch und ruft: „Von morgens zehn bis nachmittags um drei habe ich ‚Herr, erbarme Dich‘ gehört.“ Sie seufzt tief. Durch das weit geöffnete Fenster in ihrem Büro sieht man auf den Schlossplatz und das Neue Schloss in Stuttgart. „Das war beim Soundcheck für den Kirchentag“, erklärt sie lachend. „Am Tag vor dem Eröffnungsgottesdienst hier auf dem Schlossplatz. Fünf Stunden lang! Ich bekomme hier in meinem Büro eben alles mit. Aber mittendrin sein, das gefällt mir eh. Und da sollte Kirche auch sein: mittendrin.“

Dass sich ausgerechnet Brigitte Lösch in der Kirche engagiert, können sich viele Menschen nicht vorstellen. Sie ist Mitglied der Landtagsfraktion der Grünen, Sprecherin für die Belange von Lesben, Schwulen und Transgendern und war lange Zeit gar nicht in der Kirche aktiv. „Da waren schon einige Leute überrascht, als ich 2013 für die Synode der württembergischen Landeskirche kandidiert habe“, bestätigt sie. Ihr Elternhaus war nicht kirchlich geprägt, die Eltern eher bei der Arbeiterwohlfahrt und den Naturfreunden engagiert. In der Jungschar ist Brigitte Lösch nur gelandet, weil ein Nachbarsmädchen geklingelt und sie mitgenommen hat.

Später ist sie in den Konfirmandenunterricht gegangen, hat dann die offene Jugendarbeit der Gemeinde mitgestaltet. „Die Unterschiedlichkeit der Menschen zu akzeptieren und ihre unterschiedlichen Positionen, das habe ich damals gelernt. Denn: Jeder kann was. Der eine kann klasse Gitarre spielen, der andere kann super singen, der dritte kann tanzen und der vierte unendlich gut Geschichten erzählen. Wenn man diese Vielfalt in den Mittelpunkt stellt, dann ist das einfach großartig“, sagt sie rückblickend. „Außerdem habe ich gelernt, Diskussionen auszuhalten. Ich habe das ‚Nein-Sagen‘ gelernt und dass man auch mal Gegenwind erlebt.“ Das alles hilft der Politikerin heute in ihrem Arbeitsalltag: „Zuhören können, sich selbst nicht immer so wichtig zu nehmen und auch nicht immer alles besser wissen zu müssen, nicht mit dem Zeigefinger zu dozieren, das habe ich damals in der Kirchengemeinde gelernt und das kommt mir jetzt auch sehr zunutze.“

Kritische Solidarität

Brigitte Lösch ist selbst überrascht, dass ihr die Kirche wirklich wichtig ist: „Komischerweise liegt mir die Kirche bis heute am Herzen. Ich habe in meiner Arbeit als Sozialarbeiterin und auch in meiner Arbeit im Landtag viele Kontakte zu Diakonie und Caritas oder auch zur Frauenarbeit der Kirchen gehabt. Und da habe ich tolle Erfahrungen gemacht. Immer wieder wurden super Projekte angestoßen. Das hat mich schwer beeindruckt.“ Trotzdem sieht sie die Kirche auch kritisch. So setzt sie sich in der Synode der württembergischen Landeskirche zum Beispiel dafür ein, dass homosexuelle Menschen in einem Traugottesdienst gesegnet werden können. Und dass homosexuelle Pfarrerinnen und Pfarrer mit ihren Partnerinnen und Partnern im Pfarrhaus wohnen dürfen. Denn, so Brigitte Lösch: „Jesus liebt alle Menschen, nimmt alle so an, wie sie sind. Ganz egal, ob sie nun eine andere Geschlechtlichkeit oder Identität, Nationalität oder ein Handicap haben. Alle Menschen sind bei ihm gleich willkommen.“

Kirche muss raus, runter von der Kanzel und rein in die Gemeinde.

Brigitte Lösch

Auch wünscht sie sich, dass die Kirche näher an die Menschen heranrückt. „Kirche muss raus, runter von der Kanzel und rein in die Gemeinde.“ Sie träumt darum von einer Kirche, die da aktiv ist, wo auch die Menschen sind. „Ich kann heute nicht mehr erwarten, dass die Leute in mein Gemeindehaus kommen, mit mir einen Stuhlkreis machen und diskutieren. Die Zeit ist rum. Deshalb müssen wir zu den Stadtfesten, müssen in die Bürgerbüros, müssen mit den Menschen reden. Und zwar mit allen. Dann werden die Leute auch wieder einen anderen Zugang zur Kirche kriegen.“ So stellt sich Brigitte Lösch die Arbeit der Kirche heute vor. „Wenn ich meinen Teil dazu beitragen kann, dass sich in der Kirche manches schneller bewegt, dann tue ich das gern.“

Spiritualität – „Die Augen nach innen drehen.“

Es ist Brigitte Lösch wichtig, dass sich die Dinge verändern, verbessern, und zwar möglichst bald. Während sie ihr Bild von der Kirche der Zukunft beschreibt, kommt sie ins Schwärmen, ihre Augen leuchten, ihre Stimme ist deutlich und klar und großzügige Gesten unterstreichen das Gesagte. Aber es gibt auch eine Brigitte Lösch, die leise und nachdenklich spricht. „Vielleicht liegt das am Alter“, überlegt die 53-Jährige, „aber ich beschäftige mich wieder intensiver mit mir selbst. Ich merke, ich suche mehr nach sinnstiftender Arbeit. Darum hat mich der Gedanke, für die Synode zu kandidieren, gereizt.“ Und wenn es auch schnell voran gehen soll, sind ihr doch auch Momente der Ruhe wichtig. „Es gibt so Tage, an denen ich mir wie in einem Hamsterrad vorkomme und von morgens bis abends lauter unterschiedliche Termine habe. Dann fange ich schon an zu denken: ‚Oh Gott, das kriegst du ja alles gar nicht unter. Und wie kriegst du das alles bloß hin?‘ Da kommt die Angst, dass der Berg über mir zusammenbricht. Und in solchen Augenblicken ziehe ich meine Kraft auch aus der Spiritualität.“ Dann setzt sich Brigitte Lösch einen Moment lang aufrecht hin auf ihrem Bürostuhl, atmet tief durch und schließt die Augen. „Die Augen nach innen drehen“, nennt sie das. Und dann kann sie wieder weiter machen.

Doch fünf Stunden lang „Herr, erbarme dich“ zu hören, dass war dann selbst für die der Kirche so nahe stehende Landtagsvizepräsidentin zu viel. „Als wir dann beim Eröffnungsgottesdienst des Kirchentages ‚Herr, erbarme dich‘ gesungen haben, da habe ich gedacht: Ja, juhu, genau, Herr erbarme dich. Endlich.“

Anna Görder


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