„Du bist schön! 7 Wochen ohne Runtermachen.“ ist das Motto der bundesweiten Fastenaktion 2015 der Evangelischen Kirche in Deutschland. Mit verschiedenen Themenwochen soll während der Fastenzeit das Unverwechselbare entdeckt und wertgeschätzt werden. Dazu stellen wir Ihnen jeweils ganz besondere Menschen vor. In dieser Woche Jürgen Reinartz. Ein Maler, überzeugter Christ und in einer schwierigen sozialen Situation.
Es gibt viel Leben in der Werkstatt des Immanuel-Grözinger-Hauses. Mittendrin sitzt Jürgen Reinartz vor einer Staffelei und schwingt in meditativer Ruhe den Pinsel. In den Büros im Haus hängen mehrere Bilder von ihm. Ein Leuchtturm hatte Sozialarbeiter Rainer Abweser gefallen, da hat Reinartz ihm das Bild geschenkt. Seine bunten Werke zeigen einen fröhlichen Blick auf die Welt. Als ob da einer mit sich selbst im Reinen ist, ganz ohne Bitterkeit. Grund, vergrämt zu sein,hätte er allerdings schon. Seine allerersten Lebenstage verbrachte Reinartz im Keller. Weil Bomber das Krankenhaus im Hochsauerland angriffen, in dem er 1944 geboren wurde.
Wie kam Reinartz nach Stuttgart? Eine Firma schickte den Stahlbauschlosser von Düsseldorf zur Montage beim Daimler. „Es sollte für zwei Jahre sein“, sagt Reinartz, doch dann blieb er im Süden hängen. Auf die Schwaben musste er sich erst einstellen. Die Rheinländer streben alle zueinander, meint er, die Schwaben auseinander. „Im Rheinland braucht eine Wirtschaft eine lange Theke, in Schwaben viele Tische, jeder braucht seine eigene Ecke.“ Dass die Preise in Stuttgart höher sind, stellt er schnell fest. „Das beginnt schon bei der Bratwurst.“ Lebendig erzählt er vom internationalen Düsseldorf und seiner Geschichte, von Napoleons Plänen mit der Stadt und den Konflikten mit den Kölnern. Wie findet er Stuttgart? Seit die Glaspaläste der Banken in den Himmel ragen, wirke der benachbarte Hauptbahnhof wie deren Garage, findet er.
Im Jahr 2000, an der Stadtbahnhaltestelle Rathaus, gerät Reinartz in eine Pöbelei. Er wird hinunter aufs Gleis gestoßen, bricht sich einen Oberschenkel. „Da ging erst einmal gar nichts mehr“, sagt Reinartz. Noch heute hat er eine große Schraube im Bein und benutzt eine Gehstütze. Vier Jahre später, als er fast wieder fit war, stolperte er beim Putzen der Wohnung über den Schrubber und brach sich das Fußgelenk. „Das war am letzten Tag der Olympiade“, erinnert er sich. „Erst vor kurzem habe ich Ihnen das Laufen wieder beigebracht, jetzt sind Sie schon wieder da“, sagte seine Physiotherapeutin. Zwischenzeitlich wurde das Haus, in dem er auf dem Steinhaldenfeld gewohnt hatte, abgerissen. Auch aus der Ersatzwohnung in Stammheim musste er wieder ausziehen.
Nun wohnt er in elf Quadratmeter „Ersatzwohnraum“ im Immanuel-Grözinger-Haus, das die Evangelische Gesellschaft Stuttgart 1966 in Betrieb genommen hatte. Damals holte sie die Menschen aus den Bunkern, die über 20 Jahre nach Kriegsende noch immer keine andere Bleibe gefunden hatten. Heute wohnen Männer mit besonderen sozialen Schwierigkeiten im Haus, unter anderem Haftentlassene und solche, die sonst obdachlos wären. Für manche Bewohner ist es ein Zwischenschritt, für derzeit 80 – so wie Reinartz – auf Dauer. Ein großes Problem ist der Alkohol, deshalb gibt es Angebote der Suchtberatung.
Die Malerei hat Reinartz vor einigen Jahren für sich entdeckt, sich alles selbst angeeignet. Seine Bilder werden auf dem jährlichen Bazar der Evangelischen Gesellschaft verkauft. Der Erlös kommt den Bewohnern des Wohnheims zugute, etwa für Ausflüge oder ein gemeinsames Essen. Er selbst bekommt pro Arbeitstag zwei Euro, mehr ist als Hinzuverdienst nicht zulässig. Manches Bild findet seine Weg gar nicht zum Bazar, sie werden direkt bestellt. Sein Zimmer putzt Reinartz selbst, macht auch das Frühstück, will sich seine Eigenständigkeit erhalten. Er nimmt aber am gemeinsamen Mittagessen teil. Reinartz ist gern unter Leuten. Das geht auch ohne viel Geld. Die Stadtbahnhaltestelle ist nicht weit, er nutzt das Sozialticket. „Es gibt viele Möglichkeiten, ohne Geld Leute zu treffen.“
Jürgen Reinartz wirkt zufrieden. Er erzählt vom regelmäßigen Gottesdienstbesuch und seinem Bibelfernkurs. Davon, dass er christliche Schriften gerne an andere weitergibt. „Ich will, dass Leute, die mir begegnen, etwas vom Charakter Jesu Christi erkennen.“ Er findet die Fastenzeit wichtig: „Das ist eine Überprüfung an unser Gewissen, welche Dinge man nicht braucht. Es geht um eine Bestandsaufnahme, es geht darum, das Leben zu vereinfachen.“
Peter Dietrich