Geht man mit Gerhard Ernst durch die großen Hallen der Firma Lotter in Ludwigsburg, wird jeder Mitarbeiter mit einem freundlichen Kopfnicken bedacht. In den 1970er Jahren ist Gerhard Ernst in den Familienbetrieb eingestiegen und hat dann gemeinsam mit seinem Vater und seinem Bruder bis 2009 die Firma geleitet. Trotzdem sieht es so aus, als würde Gerhard Ernst auch heute noch alle seine ehemaligen Mitarbeiter mit ihren Geschichten und ihrem Leben kennen. Dass dies bei 500 Mitarbeitern allein in Ludwigsburg und 1.300 Mitarbeitern deutschlandweit nicht der Fall sein kann, ist klar. Und dennoch: Die Augen des Kranführers in der Firmenhalle leuchten auf, als der Seniorchef vorbeikommt.
Dabei legt Gerhard Ernst eigentlich gar nicht viel Wert auf die Meinung anderer Menschen. Unabhängigkeit ist für ihn zentral. Und unabhängig zu sein, das hat er auf einer Jugendfreizeit bei den Aidlinger Schwestern gelernt. Da war er zwölf Jahre alt. „Dort hatte ich so ein gewisses Bekehrungserlebnis“, sagt Gerhard Ernst schmunzelnd, als er entspannt zurückgelehnt an seinem großen Wohnzimmertisch sitzt und aus seinem Leben erzählt. „Das war gut für mich, denn ich habe etwas gelernt, was für mich später wichtig war: Jesus vergibt dir deine Sünden. Aber du musst sie auch bekennen. Das habe ich gemacht.“ Da ging dann also der zwölfjährige Junge zur Lehrerin und gestand ihr, dass er abgeschrieben hatte. „Die Lehrerin war so bass erstaunt, die wusste gar nicht, was sie machen sollte“, erinnert Gerhard Ernst sich lachend. Eine Strafe hat er damals nicht bekommen. Und da wusste er: „Ich kann mein Leben selbst in die Hand nehmen. Ich kann Fehler wieder gut machen. Gott ist bei mir. Das hat mich von der Meinung anderer unabhängig gemacht.“
Später behält er diese Unabhängigkeit immer im Blick: Statussymbole braucht er nicht. Sein Leben lang wohnt er in einem bescheidenen Haus, dessen Garten von den hohen Mauern der Lagerhalle seiner Firma begrenzt wird. Und lieber hat er mehr in die eigene Firma investiert und bewusst auf schnelles Wachstum verzichtet, als ganz auf Banken oder andere Geldgeber angewiesen zu sein. „So haben wir gut so manche Krise in der Firma überstanden.“
Aber ganz ohne andere Menschen geht es auch nicht. Das weiß der Vater von drei Söhnen auch. „Ich wollte immer frei und unabhängig sein. Da besteht die Gefahr, sich zurückzuziehen oder stur zu werden. Ich habe Glück gehabt, immer wieder auf Menschen zu treffen, die mir gezeigt haben, dass beides möglich und gut ist: Unabhängig zu sein und sich mit anderen auseinanderzusetzen und dabei zu lernen.“ Seine Mutter habe ihn und seine Geschwister christlich erzogen, erzählt er, und sie habe großen Wert darauf gelegt, dass ihre Söhne den Arbeitern in der Firma mit Wertschätzung begegnen. „Es war für uns immer klar, dass alle Menschen gleich viel wert sind. Dass man anständig mit allen umgehen muss.“ Diese Haltung ist Gerhard Ernst im CVJM in Ludwigsburg wieder begegnet. „Damals durfte ich zur Weltjugendtagung des CVJM nach Hilversum in Holland fahren“, erzählt er. „Mich kleines Licht haben die dorthin geschickt. Einfach so. Da waren alle gleich wichtig.“ Später, in der Firmenleitung hat er darum darauf bestanden, dass Kunden und Lieferanten fair behandelt werden. Und stirbt einer seiner ehemaligen Mitarbeiter, dann geht er zur Beerdigung, auch wenn er nun schon mehrere Jahre im Ruhestand ist. „Ob das die Angehörigen tröstet, weiß ich nicht. Aber ich finde, es zeigt, dass man den Verstorbenen respektiert.“
Die Welttagung des CVJM hat Gerhard Ernst aber noch aus einem anderen Grund geprägt: „Da waren Jugendliche aus allen möglichen Ländern. Wir haben viel geredet, diskutiert. Die Brasilianer und auch die Amerikaner, die waren damals schon weiter als wir und der Meinung, dass Geschlechtsverkehr vor der Ehe nichts Schlimmes sei. Wir Deutschen fanden das absolut skandalös. Wir haben diskutiert und auch gestritten. Und hinterher, da hat mir dann einer der Brasilianer angeboten, ich könne doch bei ihm auf dem Fahrrad zum Abendessen mitfahren. Das hat mich beeindruckt: Wir konnten Freunde sein, auch wenn wir unterschiedliche Meinungen hatten.“ Überhaupt habe er beim CVJM bei vielen Vorträgen und Diskussionsrunden um Glaube, Politik und Gesellschaft gelernt, dass es wichtig ist, einen eigenen Standpunkt zu haben und zu vertreten. Und dass es genauso wichtig ist, andere Standpunkte zu akzeptieren, Wert zu schätzen und trotzdem gut miteinander umzugehen. Und genau diese Auseinandersetzung mit dem Glauben und der Gesellschaft, die Bereitschaft, miteinander zu diskutieren und auch mal zu streiten und dennoch gemeinsam unterwegs zu sein, die fehlt ihm heute manchmal in der Kirchengemeinde, in der er sich engagiert: „Wir tragen viele Tische hin und her, aber wann reden wir eigentlich mal über das, was uns wirklich wichtig ist?“, fragt er. Und zieht die Konsequenz: „Einen festen Standpunkt haben und zugleich offen für andere zu sein, das wünsche ich mir, dass ich so bleiben kann.“
Anna Görder