Santiago de Compostela, Vezelay, Lourdes oder Fatima: Allesamt berühmte Wallfahrtsorte, die den meisten Christen zumindest dem Namen nach bekannt sind. Dass Pilger auch durch Esslingen kommen, wissen (noch) nicht so viele.
Wenn der evangelische Pfarrer Enno Knospe sich in der Esslinger St. Bernhardt-Kirche aufhält, trifft er zuweilen auf Pilger: Reisende auf dem Weg des Glaubens, die in der Stille der Kirche Rast machen, Einkehr und Besinnung genießen oder auch nur den Pilgerstempel abholen und ihre Wasserflaschen auffüllen wollen.
Ein Zweig des Jakobswegs ins spanische Santiago de Compostela führt auch durch den Landkreis Esslingen. Die St. Bernhardt-Kirche lag früher außerhalb der heute 93.000 Einwohner zählenden Stadt Esslingen und war eine Wallfahrtskapelle. Doch noch heute stimmen Pilger in der Kirche ein Lied an, andere bitten den Pfarrer um den Pilgersegen, Gruppen wünschen sich gelegentlich eine kurze Andacht.
Moderne Pilger treibe weniger der religiöse Aspekt an als vielmehr die Suche nach Spiritualität oder der Wunsch nach einer Auszeit vom Alltag, schildert Knospe. „Manche machen sich auf den Weg, wenn das gewohnte Leben nicht weitergeht oder sie eine Krise durchmachen.“
Häufig seien es nur kurze Begegnungen, die den Kontakt zwischen Pilgern und Pfarrer ausmachen. Bei Thomas Schuh war das anders: Er hatte sich auf den Jakobsweg gemacht und fragte im Pfarramt nach einer Übernachtungsmöglichkeit nach. Enno Knospe und seine Frau boten ihm kurzerhand einen Schlafplatz auf ihrer Couch an.
Schuh war auf dem 3.000 Kilometer langen Weg von Schwäbisch Hall nach Santiago de Compostela unterwegs - in 107 Tagen legte er die Strecke in den Wallfahrtsort zurück. Irgendwann bekam Knospe eine Postkarte - und der Pfarrer lud Schuh ein, in der evangelischen Kirchengemeinde St. Bernhardt zum Hohenkreuz über seine Erlebnisse auf dem spirituellen Weg zu berichten.
Pilgern, sagt Pfarrer Knospe, eröffne als Gegenpol zur raschen Fortbewegung die Möglichkeit, innerlich zur Ruhe zu kommen. Aber auch die Gemeinschaft anderer Pilger zu erleben, ist für Knospe ein wichtiger Aspekt des Pilgerns. Anders als das Wandern habe das Pilgern einen spirituellen Ansatz: Die Seele gehe quasi zu Fuß.
Auch bei Knospes Pfarrer-Kollege Christoph Schweizer war es ein Telefonanruf, der zu einer ganz besonderen Begegnung führte: Eine Spaziergängerin war auf einen Pilger getroffen, der nur Portugiesisch und Französisch sprach - eine Verständigung war nur schwer möglich. Also rief sie im Esslinger Stadtteil Hohenkreuz kurzerhand im Pfarrhaus an.
Ob er sein Zelt im Garten des Gemeindezentrums aufschlagen dürfe, fragte der Fremde. Schweizer bot dem gebürtigen Portugiesen nicht nur ein Abendbrot an, sondern lud ihn auch zum Übernachten im Gemeindezentrum ein. „Wir hatten einen netten Abend zusammen und haben viel über das Leben gesprochen“, erzählt der Pfarrer. „Er war auf seiner persönlichen Friedensmission. Das hat mich sehr beeindruckt."
Der Portugiese hatte sich vorgenomen, den Jakobsweg von Polen bis nach Spanien zu gehen.
Wer einen so langen Trip unternimmt, ist auf kostenlose oder wenigstens günstige Übernachtungsmöglichkeiten angewiesen, weiß Pfarrer Knospe.
In Esslingen gibt es etliche gastfreundliche Familien beziehungsweise Personen, die Pilger kostenlos aufnehmen. An sie verweist Knospe bei Anfragen weiter. Doch nicht immer ist es einfach, Unterkünfte anzubieten. „Wenn es die eine oder andere Übernachtungsmöglichkeit mehr gäbe, wäre das schön", betont der Pfarrer.
Wie unterschiedlich die Bereitschaft ist, Pilger aufzunehmen, davon berichtete der Portugiese seinem Gastgeber in Hohenkreuz auch: Während er in Polen offene Türen fand, habe er in der Slowakei großes Misstrauen gegenüber Fremden erlebt. In Deutschland sei es in ländlichen Gebieten einfacher, unterzukommen; in Ballungsgebieten stehe ein Pilger oft vor verschlossenen Türen.
Auch in der Denkendorfer Klosterkirche, die wie Esslingen ebenfalls am Jakobsweg liegt, schauen immer wieder Pilger vorbei, bewundern das Gotteshaus und lassen ihren Pilgerpass abstempeln. Gelegentlich erreichen Pfarrer Rolf Noormann Anfragen für eine Andacht. „Doch ganz selten fragen Leute wegen einer Übernachtung nach“, berichtet er über seine Erfahrungen.
Unterdessen schätzt Enno Knospe, der gemeinsam mit seiner Frau immer wieder selbst auf Pilgerwegen unterwegs ist, eindeutig die Privatquartiere. „Wenn man bei Wildfremden übernachtet, ist das jeden Abend wieder ein neues Erlebnis."
Im Auftrag des Evangelischen Kirchenkreises Esslingen hat sich Ulrike Rapp-Hirrlinger auf die Spuren des Jakobswegs im Landkreis Esslingen begeben.