Die Evangelische Hochschule für Kirchenmusik Tübingen (HKM) der württembergischen Landeskirche bildet hauptamtliche Kirchenmusiker aus und geht dabei besondere Wege. Schon früh hat die HKM einen eigenen Studiengang für populare Kirchenmusik eingerichtet und dabei im Raum der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) eine echte Vorreiterrolle übernommen. Die Hochschule achtet darauf, dass die Studierenden der klassischen und der popularen Richtung so viel wie möglich voneinander profitieren und sehr nah an der Gemeindepraxis ausgebildet werden. In diesem Interview erklären der Rektor der Hochschule Prof. Thomas J. Mandl und Prof. Patrick Bebelaar (Fachgruppensprecher Popularmusik), was das Besondere an der HKM in Tübingen ist, wie die Hochschule arbeitet und welche Bedeutung der Kirchenmusik in Kirche und Gottesdienst zukommt.
Was ist die Aufgabe der Tübinger Hochschule für Kirchenmusik? Was macht sie zu etwas Besonderem?
Patrick Bebelaar: Die Hochschule bildet Kirchenmusiker und -musikerinnen aus, die ihr Studium mit Bachelor und Master – früher hieß das B- und A-Kirchenmusiker – abschließen und dann in den Gemeinden arbeiten. Tübingen war und ist Vorreiter in Deutschland, was die kirchliche Popularmusik angeht, und hat dafür früh einen Masterstudiengang eingeführt. Kurz darauf hat die Hochschule in Witten den Bachelor eingeführt. So ist dann ein gewisser Druck bei der Rektorenkonferenz entstanden, eine Rahmenordnung für Kirchenmusik-Studiengänge mit Schwerpunkt Popularmusik zu schaffen. Danach haben wir dann auch den Bachelor eingeführt.
Die Bewerber bringen für diesen Studiengang oft ganz andere Fähigkeiten und Hintergründe mit als die Studierenden der klassischen Kirchenmusik: teilweise autodidaktisch, teilweise mit vorherigem Jazz- oder Pop-Studium. Sie haben zum Beispiel ein ganz anderes Rhythmusgefühl. Das nutzen wir, damit beide Richtungen voneinander profitieren. Wir schaffen Überlappungen, etwa indem die Popular-Studierenden in den Grundlagenfächern bei den Klassikern mitmachen. Und umgekehrt müssen die Klassiker anschließend im Popchor dabei sein, damit sie diese körperliche, rhythmische Präzision lernen. Das führt dazu, dass die Studierenden die Stärken der jeweils anderen Richtung wahrnehmen. In dieser Verzahnung der Fachbereiche sind wir immer noch Vorreiter. Der Erfolg zeigt sich in einer hohen „Überläuferquote“. Einige Klassiker machen zum Beispiel noch einen Popularmaster, und andersherum belegen viele Popularstudierende zusätzlich klassischen Gesang oder klassisches Klavierspiel, obwohl sie das gar nicht müssten. Dieses Miteinander- und Voneinanderlernen ist das Außergewöhnliche an unserer Hochschule. Das ist eine einmalige Situation, und das fühlt sich im Moment für alle richtig gut an. Und zugleich habe ich das Gefühl: Da kommt noch mehr.
Wirkt sich das später auch auf den Berufseinstieg aus?
Thomas Mandl: Da sind wir gespannt. Wir haben noch keine Abschlüsse in diesen eng verzahnten Studiengängen. Den Studierenden macht ein bisschen Sorge, dass die Gemeinden ja nicht so klar profiliert Leute suchen, die entweder nur Klassik oder nur Popularmusik können. Die Aufgabe ist ja in der Regel, verschiedene Bedarfe bedienen zu können. Und reine Popstellen gibt es in Württemberg nicht. Das wissen die Popstudierenden. Aber nach dem, was wir bisher hören, läuft es sehr gut.
Wieviel Studienplätze gibt es hier?
Thomas Mandl: Offiziell 26. Es gibt aber auch zwei Personen, die ein Doppelstudium absolvieren. Aber da muss man schon sehr strukturiert und sehr fleißig sein, um das zu bewältigen.
Warum in Tübingen studieren und nicht in Stuttgart an der Musikhochschule?
Patrick Bebelaar: Wir sind eine evangelische Hochschule. In Rottenburg gibt’s die katholische Hochschule für Kirchenmusik. Stuttgart ist eine staatliche Hochschule; sie ist riesig. Viele studieren dort nicht Kirchenmusik sondern Orgel. Die kommen dann anschließend zu uns, weil sie gemerkt haben, dass sie als Konzertorganist nicht weit kommen. Ich brauche ja auch die Befähigung, in der Kirche zu arbeiten. Das geht nur mit einem Kirchenmusikstudium. Vor Allem bilden wir aber viel gemeindenäher und an der Arbeit in der Kirche orientiert aus. Wir wissen, wie der Alltag später aussieht. Wir sind viel näher an der Gemeindearbeit und der Praxis dran. Das ist etwas ganz anderes als Stuttgart, wo man im Elfenbeinturm künstlerisch ausbildet.
Thomas Mandl: Die Gemeindeanbindung ist bei uns verbindlich, darum kommt man nicht herum. Hinzu kommt die Nähe zu unserem katholischen Pendant in Rottenburg. Diese Kooperation ist einmalig in Deutschland. Zum Beispiel unterrichten wir die Chorleitungsfächer deckungsgleich, und es gibt einzelne Fächer und Prüfungen, die gemeinsam stattfinden. Diese ökumenische Zusammenarbeit ist bemerkenswert.
Patrick Bebelaar: Dadurch werden die Studierenden später weniger Hemmungen haben, auch im Beruf die Kooperation zu suchen. Machen wir uns nichts vor: Die Zeiten werden es mit sich bringen, dass da nicht mehr jeder nur sein Süppchen kocht, sondern dass man sich gegenseitig unterstützt.
Thomas Mandl: Zum Beispiel haben wir kürzlich eine große Studienfahrt gemeinsam gemacht. Dabei lernt man dann auch die Liturgie und Theologie der anderen kennen. Das ist ein unglaublicher Schatz. Den müssen wir unbedingt hüten.
Ist die Popularmusik in den Kirchengemeinden schon so gut integriert, wie Sie es für nötig halten, oder gibt es noch Luft nach oben?
Thomas Mandl: Unsere Aufgabe ist es, so viel Professionalität und Qualität einzubringen, dass die Sache der Popularmusik auf einem guten Fundament steht. Unsere Studierenden bekommen das komplette Paket wie die klassischen Musiker. Sie bekommen alles, um die Musik wirklich durchdringen und lebendige Kirchenmusik erzeugen zu können. Aber klar, wenn wir dann anschauen, was für Musik in den Gemeinden gemacht wird, ist das sehr unterschiedlich. In den Städten geht zum Beispiel oft mehr an Neuem, Experimentellem als auf dem Land. Das ist völlig normal für uns. Unsere Studierenden ermutigen wir, möglichst viel anzubieten.
Patrick Bebelaar: Man kann klar sagen: Wo unsere Absolventen hinkommen, nehmen die Gemeinden die höhere Qualität der Musik im Gottesdienst sehr positiv wahr. Wir sind eine Hochschule, das heißt, wir bilden auf so einem Niveau aus, dass unsere Absolventen in den Gemeinden wiederum auch ausbilden können.
Thomas Mandl: Das ist wichtig, weil ja in der Gesellschaft und auch in den Pfarrhäusern die musikalischen Kompetenzen zurückgehen. Wir brauchen die Fachleute in den Gemeinden, die die Musik nicht nur machen, sondern auch vermitteln können. Die Kirchenmusik muss die Gemeinde ein bisschen „erziehen“. Die Kirchenmusiker, wenn sie gut sind, ziehen sich ihren Chor, ihre Band heran. Wichtig ist in der Vermittlung der Musik, dass die Musikerinnen und Musiker der Gemeinde auch erklären, was sie da machen, warum sie dieses oder jenes Lied oder Stück ausgesucht haben. Die Kirchenmusik kann in den Kerngemeinden ein echtes Aktivum sein.
Übrigens ist die professionelle Ausbildung von Kirchenmusikern noch gar nicht so alt. Erst nach dem 1. Weltkrieg sah man die Notwendigkeit, die Musik und ihr Niveau nicht mehr sich selbst und dem Zufall zu überlassen! Und jetzt auf einmal spricht man drüber, abzubauen und zu verzichten! Dabei muss jetzt investiert werden in die Musik und ihre Qualität, damit die Musik die Menschen begeistern kann. Hochwertige Kirchenmusik, ob klassisch oder popular, ist ja auch wiederum für die Pfarrpersonen eine Inspiration und gibt dem Gottesdienst zusätzliche Tiefe.
Patrick Bebelaar: Ich kenne viele Kirchenchöre, Pop- oder Gospelchöre, in denen Menschen anfangen zu singen, die mit der Kirche schon lange nichts mehr zu tun haben, aber dann durch die Tür der Musik zurückkommen. Musik ist ganz wichtig, um die Kirche lebendig und volksnah zu halten.
Wie wichtig ist Ihnen die Persönlichkeitsentwicklung in der Ausbildung?
Thomas Mandl: Wir bilden sehr breit und sehr tief aus und geben den jungen Menschen hier einen anheimelnden Raum, in dem sie sich auch in ihrer Persönlichkeit entwickeln können. Wir machen ihnen Mut und bestärken sie. Am Anfang des Studiums sind viele noch sehr schüchtern und trauen sich zum Teil noch nicht mal, vor der Gruppe was zu sagen. Aber irgendwann platzt der Knoten, und am Ende des Bachelor-Studiums sind das dann oft schon gereifte Persönlichkeiten. Sie bekommen hier auch klar gesagt: Später in der Gemeinde steht Ihr ganz vorne! Und wir schieben sie auch schon während des Studiums in die Gemeinden hinein. Fast alle sind spätestens ab dem dritten Semester in Gemeinden unterwegs, haben mindestens einen Chor und spielen Gottesdienste. Aus den Gemeinden bringen sie dann wiederum das mit zurück in den Unterricht, was sie dort gerade machen.
Was kann gute Musik für eine Kirchengemeinde leisten?
Patrick Bebelaar: Wer im Chor singt, erlebt auf diesem Weg wieder Gemeinde und Gemeinschaft und nimmt auch die positiven Seiten wieder stärker wahr – neben all dem, worüber er oder sie sich vielleicht geärgert hat. Und dann kommen zu hochwertigen Konzerten natürlich viele Menschen, die mit Kirche kaum zu tun haben. Ob sie bleiben? Sie gehen auf jeden Fall nicht komplett verloren. Gute Musik sorgt immer für Interesse.
Thomas Mandl: Das Zauberwort heißt Gemeinschaft. Ich sage den Studierenden immer: Ihr habt die Gemeinde an den Fingern. Allein durch den Chor habt Ihr schon eine Gruppe beisammen. Und darauf kann ich aufbauen, damit spielen und das ganz natürlich anbinden an die Gemeinschaft, das Gemeindeleben. Und bei Konzerten spürt das Publikum: Da ist mehr, da sind die Vibes, wie man so schön sagt. Und ganz wichtig: Der Kinderchor. Auch die Studierenden haben verstanden, dass man bei den Kindern und über sie bei den Eltern ganz viel erreichen kann. Wenn man dazu einen Zugang gefunden hat, kann das sehr erfüllend sein. Wenn auch noch die Pfarrerpersonen mitziehen und etwas daraus machen, kann ganz viel Gutes entstehen. Auch die Verzahnung mit den C-Musikern ist uns sehr wichtig. Da lässt sich auch viel machen.
Spielt die Hochschule bei der Entwicklung des neuen Gesangbuchs eine Rolle?
Thomas Mandl: Einer unserer Studenten ist in der Gesangbuchkommission dabei, und wir sprechen regelmäßig darüber. Durch ihn und Frieder Dehlinger sind wir schon sehr gut vertreten, aber direkt Einfluss können wir nicht nehmen.
Patrick Bebelaar: Ich würde mir wünschen, dass alle Lieder mit Harmonien versehen sind, denn das ist für die Popularmusiker sehr wichtig, und das ist inzwischen Standard. Toll wäre es, wenn man dann in der Gesangbuch-App zum Beispiel verschiedene Stile oder Schwierigkeitsgrade der Harmonisierung auswählen könnte.
Wo stehen die Kirchenmusik und die Ausbildung Ihrer Meinung nach in 50 Jahren?
Thomas Mandl: Auf jeden Fall müssen theologische und musikalische Ausbildung mehr zusammenwachsen und nicht mehr derart getrennt stattfinden.
Patrick Bebelaar: Wenn man sich das deutschlandweit anschaut, wird die Ausbildung in 50 Jahren da sein, wo wir heute in Tübingen schon den Maßstab setzen.
Kirchengemeinden sind herzlich eingeladen, Texte wie diesen von www.elk-wue.de in ihren eigenen Publikationen zu verwenden, zum Beispiel in Gemeindebriefen. Sollten Sie dabei auch die zugehörigen Bilder nutzen wollen, bitten wir Sie, per Mail an kontakt